Die Hospitäler als „totale Institution“ oder protestantisches Kloster?
Der Charakter der Hospitäler als Anstalten der Fürsorge ist nicht einfach zu bestimmen. Die Forschungen von Michel Foucault und Erving Goffman haben das Augenmerk auf die verhaltenssteuernenden und disziplinierenden Elemente gelenkt. Dabei geht es auch um die Abgeschlossenheit der Hospitäler gegenüber ihrer Umwelt. Erving Goffman hat den Begriff der Totalen Institution geprägt, wobei er sich an modernen psychiatrischen Einrichtungen orientierte. Danach wird das Leben der Mitglieder einer solchen Totalen Institution auf einen Ort konzentriert, an dem sie ihre tägliche Arbeit ausführen. Diese Tätigkeiten werden in einem exakt geplanten Rhythmus bzw. einem fest gefügten Tagesablauf geordnet. Dieser rationale Plan dient der Durchsetzung der Institutionsziele. Goffmans Konzept wird zumeist auf Gefängnisse und geschlossene psychiatrische Anstalten in der Moderne angewendet. Handelte es sich bei den Hospitälern um solche totalen Institutionen?
In der Organisationssoziologie werden Organisationen grundsätzlich in einer Umwelt aus gesamtgesellschaftlichen Strukturen verortet, von der die Hospitäler sich durch bestimmte Merkmale absonderten. Die gesellschaftliche Einbettung von Organisationen erfolgt dabei über Kommunikations­prozesse, in denen die Ziele der Organisation wie deren Veränderung vermittelt und solchermaßen mit den Erwartungen der Umwelt abgeglichen werden. Niklas Luhmann und die wesentlich auf seiner Systemtheorie fußende Organisationssoziologie haben eindringlich betont, dass die fortdauernde interne Kommunikation zentral für das Bestehen von Organisationen ist. Die Ziele werden immer wieder neu aktualisiert und dabei gegebenenfalls modifiziert.
Aus diesen Zielen folgten Erwartungen an die Bediensteten wie die Hospitaliten mit Blick auf spezifische Rollenmuster sowie die Anerkennung von Normen und Werten (Fleiß, Treue, Subordination, Dankbarkeit). Auch sie wurden intern immer wieder aktualisiert, etwa in der wiederholten Verlesung der Instruktionen. Die Grenzen dieser Kommunikation definieren damit auch die Grenzen der Organisation.
Die Organisation ‚Hospital’ kann in diesem Zusammenhang zunächst einmal als Extremform einer sozialen Institution verstanden werden. Soziale Institutionen sind dabei dadurch definiert, dass in ihnen regelmäßig eine über Werte bzw. Normen angeleitete Tätigkeit ausgeübt wird. Die Merkmale der „totalen Institution“ sind wie oben erwähnt wesentlich spezifischer, da diese weitgehend von der Umwelt abgeschlossen ist und das Leben der Mitglieder durch klare Regeln organisiert. Kommunikation findet im Wesentlichen mit anderen Mitgliedern derselben Institution statt, wobei diese Beschränkung den Anspruch der Institution auf umfassende Gültigkeit zusätzlich verstärkt.
Auch die Hospitäler unterwarfen das Leben der Hospitaliten wie Bediensteten klaren Tagesabläufen. Das vorübergehende oder dauerhafte Verlassen des Hospitals war deswegen nicht verboten. Die Hospitaliten benötigten dazu aber ebenso wie die Bediensteten eine gesonderte Erlaubnis des Obervorstehers. Der geschlossene Charakter wird außerdem durch den umfriedeten Klosterbezirk sowie die klösterlichen Lebensformen, also durch die Architektur sowie das strukturierte Zusammenleben in wenigen Häusern mit zugeordneten Aufwärtern betont. Die sozialen Kontakte aller Bewohner wurden dadurch weitgehend auf andere Mitglieder der Hospitäler beschränkt, nicht zuletzt, da die Hospitäler in dünn besiedelten Gegenden und damit vereinzelt lagen. Schließlich ist anzumerken, dass die Hospitäler noch im 18. Jahrhundert regelmäßig als Klöster bezeichnet wurden, was über 200 Jahre nach Auflösung derselben auf die zeitgenössische Wahrnehmung einer institutionellen bzw. organisatorischen Kontinuität hinweist. Das Kloster stand aber damals wie heute für eine fest gefügte, religiös fundierte Lebensform.
Erik Midelfort hat die Hessischen Hospitäler daher mit mittelalterlichen Klöstern verglichen, die Hospitäler daher für protestantische Formen des Klosters in der Frühen Neuzeit angesehen. Er verweist auf die strikten religiösen Ordnungsformen und den weitgehenden Anspruch der Hospitalleitung an ein religiös fundiertes Leben der Hospitaliten.
Auch wenn dieser Anspruch in vielen Instruktionen und Verordnungen der Hospitäler klar formuliert wird, scheint der Verweis auf die Klosterorganisation nicht ausreichend. Der autonome, nach außen weitgehend abgeschlossene Charakter der Hospitäler zeigt sich nämlich auch in ihrer Ökonomie. Die Hospitäler verfügten zwar über Beziehungen zu den Kreditmärkten der Umgebung. Im Übrigen waren sie vom Haushalt der Landgrafschaft völlig abgetrennt. Jenseits der initialen Stiftung haben die Landgrafen kein Geld in die Hospitäler investiert, keines entnommen. Selbst die Versorgungskosten der mit der Aufsicht des Hospitals beauftragten landgräflichen Räte wurden tageweise und detailliert von den Hospitälern getragen. Diese konnten ansonsten Geld verleihen oder aufnehmen. Im Übrigen wurden alle Arbeiten in den Hospitälern, alle Güter bis hin zu den Essensabfällen der einen Ökonomie der Hospitäler untergeordnet: „Die Speisen und Getränke, welche die leztern [Hospitaliten] nicht genießen oder übrig lassen, muß er [der Aufwärter] ebenfalls, ohne das Geringste davon an sich zu nehmen, der Oekonomie zurückliefern.“ (undatierte Instruktion für die Aufwärter des Hospitals, Staatsarchiv Marburg, Bestand 22a – Samt-Hospitaliten, Nr. 28.)
Die Hospitäler weisen also eine Reihe von Merkmalen der totalen Institution auf, sind allerdings nicht so stark von der Umwelt abgeschlossen wie der Begriff das nahe legt. Sie sind keine Gefängnisse oder gefängnisähnliche Einrichtungen, zumal die Hospitaliten zum Teil Jahrzehnte auf die Aufnahme warteten. Dahingegen werden moderne psychiatrische Kliniken als ausgesprochen negative Institutionen verstanden. Erst im 19. Jahrhundert änderte sich dieser tendenziell offene Charakter der Hospitäler durch den Wandel hin zu psychiatrischen Kliniken.


Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt 1972.
Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984.
Will Martens, Organisation und gesellschaftliche Teilsysteme, in: Günther Ortmann (Hg.), Theorien der Organisation. Die Rückkehr der Gesellschaft, Wiesbaden 2000, S. 263-311.
Vgl. Klaus Türk, Organisation als Institution der kapitalistischen Gesellschaftsform, in: Günther Ortmann (Hg.), Theorien der Organisation. Die Rückkehr der Gesellschaft, Wiesbaden 2000, S. 124-176.
Dirk Baecker, Organisation als System, Frankfurt am Main 1999.
H. C. Erik Midelfort, Protestant Monastery? A Reformation Hospital in Hesse, in: Peter Newman Brooks (Hg.), Reformation Principle and Practice. Essays in Honour of Arthur Geoffrey Dickens, London 1980, S. 71-93.
Gliederung:
  1. Einführung in die Hospitalgeschichte
  2. Organisation
  3. Gutsbetrieb
  4. Leben im Hospital
  5. Literatur
  6. Quellen
  7. Linksammlung